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Weihe der Priesterin

Heute war ihr großer Tag. Der Tag der letzten Prüfung. Jahrelang hatte sie die Riten und Rituale ihres Ordens gelernt. Trotz ihrer 15 Lebensjahre war sie bereits eine Kapazität in allen Glaubensfragen. Tagelang war sie eingehend von der Hohen Priesterschaft geprüft worden, um Heute die große Prüfung ablegen zu können. Lautlos öffnete sich die Tür zur großen Halle. Versuchend, ihre Nervösität durch Atemübungen und Gebete zur großen Göttin zu unterdrücken griff sie nach dem Opferdolch und steckte ihn in eine Schlaufe ihres dünnen, fast durchsichtigen Ritualgewandes. Der Tag konnte für sie nun auf zwei Arten enden. Entweder würde sie danach Opferpriesterin der Bascheba sein, eine der höchsten Stellungen in der bekannten Welt innehaben, oder aber selbst ihr Leben auf dem Opferaltar lassen und der Göttin direkt gegenüberstehen. So oder so, der Tag würde ein gutes Ende nehmen.

Ihr Name wurde intoniert. ,,Esnera, Tochter der Dara! Betritt die allerheiligste Halle! Zeige dich der Göttin! Laß sie entscheiden, ob du würdig bist, die Weihen als ihre Opferpriesterin zu empfangen!``

Esnera erhob sich, schritt durch die wheirauchgeschwängerte Luft zu ihrem Platz, acht Schritte vor der großen Statue der Bascheba. Natürlich war dieser in der Halle durch nichts gekennzeichnet. Wählte sie ihn falsch, währe die Prüfung bereits jetzt für sie beendet. Dort angekommen kniete sie nieder und begann, die Litanei des Blutes zu singen. Der Text war von einer erschreckenden Klarheit. Zusammen mit der Melodiefürung war dieses Werk durchaus in der Lage, einem unvorbereitetem Menschen den Verstand zu rauben.

Nachdem sie geendet hatte, begann der Priester mit seinen Gebeten. Erst jetzt konnte Esnera sicher sein, sich wirklich an der richtigen Stelle des Vorplatzes zur Statue zu befinden. Nun gab es über eine Stunde keine Gefahr mehr für sie, einen Fehler zu machen. Selbst die rituelle Waschung mußte Esnera nur über sich ergehen lassen, ohne selbst aktiv zu werden.

,,Oh große Göttin Bascheba. Sieh wohlwollend auf uns unwürdige nieder, und besondes auf deine Dienerin Esnera, die, so es Dir gefällt am heutigen Tag die hohe Weihe einer Opferpriesterin erhalten wird, um mit Deinem Segen hinauszuziehen, allen Menschen Kunde Deines unvergänglichen Ruhmes und die Möglichkeit der Dir gefälligen Verehrung zu bringen.``

Diese Worte des Priesters betrafen einen Punkt, der ihr etwas Angst machte. Hinausziehen in alle Welt. Nicht überall würde sie freundlich aufgenommen werden. Zwar war der Glaube an Bascheba weit verbreitet. Sie konnte fast überall auf Anhänger ihrer Religion hoffen. Jedoch war jene nur hier auf den Esetischen Inseln uneingeschränkt als gut angesehen. überall sonst würde sie die dunklen Facetten ihrer Religion repräsentieren. Als Opferpriesterin war es ihre Aufgabe, Opfer darzubringen. Zwar waren dies in den seltensten Fällen lebende Wesen, oder gar Menschen, jedoch wurden auch schon einige Frauen ihres Standes von einem weltlichen Gericht als Mörder verurteilt und hingerichtet, ohne die Möglichkeit, ihr Leben zu Ehren der Göttin zu geben.

Nun begann die zweite Stunde der großen Prüfung. Esnera übernahm die Rolle der Priesterin. Jedes Wort und jede Betonung waren hundertmal eingeübt. Jede Bewegung mehr ein Reflex, als bewußt ausgeführt. Die Göttin schien ihr wohlgesonnen zu sein, so einfach gingen ihr die Riten von der Hand. Sogar der hohe Priester wagte es, ein zufriedenes Gesicht zu machen. Oder lag das eher an ihrem dünnen Gewand, das durch das rituelle Bad vollends durchsichtig geworden war? Schnell verbannte sie diese Gedanken aus ihrem Kopf. Sie waren ihrer nicht würdig und lenkten sie nur von dem Ritual ab. Bevor sie ausgesandt werden würde, zu einem der niederen Tempel, würde sie der Göttin ein Kind schenken. Jedoch jetzt war nicht die Zeit, ihre Gedanken schweifen zu lassen. Außerdem trocknete sie schon wieder in der aufsteigenden Sonne des Mittsommertages.

Nach Abschluß der Anbetungszeremonie wandte sich Esnera der eigentlichen Prüfung zu. Die Durchführung des Höchsten Opfers. Auf der anderen Seite der großen Halle, Gegenüber des Hochaltars standen die Tempeljungfrauen, in der Erwartung ,daß sie aus ihren Reihen ihr Opfer erwählte. Esnera konnte sich noch gut errinnern, wie sie dort gestanden hatte. Wie sie die Göttin angefleht hatte, die damalige Priesterin möge sie erwählen, ihr die höchste Ehre einer Gläubigen zuteil werden zu lassen. Ihre Enttäuschung, als die Priesterin an ihr vorbeiging, ohne sie auch nur anzusehen. Heute verstand Esnera natürlich, daß sie damals viel zu jung gewesen war. Zwar eifrig, aber unvorbereitet.

Während sie die Halle durchquerte, vorbei am Chor der singenden Priester, nahm sie bereits die Jungfrauen in Augenschein. Einige kannte sie noch aus der Zeit, als sie eine von ihnen war. Bevor sie ausgewählt wurde, die Ausbildung zur Opferpriesterin zu erfahren. Wieder waren einige zu jung, andere auch bereits zu alt, die höchste Ehre zu empfangen. Letztere würden wohl bald erwählt werden, den Aspekt der Geburt zu betonen. Es war ein Teil der Prüfung, vielleicht der schwerste, aus ihnen die Richtige zu wählen.

Da sah Esnera sie. So mußte der Traum eines jeden Mannes in einsamen Nächten aussehen. Schulterlange pechschwarze Haare umrahmten ein feines, wie aus weißem Marmor gearbeitetes Gesicht, das einen perfekten Körper krönte, der seine Knospen gerade zu voller Blüte geöffnet hatte. In andächtiger Haltung stand sie da, eine nahezu ungeheuerliche Reinheit ausstrahlend, und doch unbewußt jeden Mann geradezu auffordernd, um sie zu werben. Wenn es je ein Würdiges Opfer für die Göttin des ewigen Kreislaufes von Geburt, Tod und Wiedergeburt, von Anfang, Ende und Neuanfang gegeben hatte, so war sie es. Ohne zu zögern schritt Esnera auf sie zu und legte ihr zum Zeichen ihrer Erwählung die Hand auf die Schulter.

Die Erwählte sah ihr in die Augen, wie es der Ritus vorschrieb. Doch was Esnera dort erblickte, war nicht die zu erwartende Freude, schon bald der Göttin selbst gegenüberstehen zu dürfen. Eher war es ein tiefes Erschrecken, ja schon an Panik grenzend und danach nur noch ergebenheit in ihr Schicksal. Fast war es ihr, als fühle sie ihr Gegenüber erzittern. Mit gebrochener Stimme sprach die Jungfrau: ,,Ich bin bereit.`` Esnera erschrak. Sollte es diesem Sinnbild jedes Opfers etwa an innerer Einstellung mangeln? Doch sie konnte nun nicht mehr zurück. Ihre Wahl war getroffen. Diese Tempeldienerin würde heute auf dem Blutaltar ihr Leben lassen.

Das Ritual erlaubte nun einige Freiheiten, daher fragte Esnera sie: ,,Glaubst du an Bascheba?`` überrascht sah ihr Gegenüber auf. ,,Ja, Priesterin.``

,,Wovor also fürchtest du dich?``

,,Es ist ... nichts. Ich ... komme aus Kash. Nach der dortigen Auslegung läßt sich leicht vergessen, daß Bascheba auch Göttin des Todes ist.`` Mit leiser, kaum hörbarer Stimme fuhr sie fort: ,,Ich hatte gehofft, meine Bestimmung darin zu finden, Frauen die Schmerzen der Geburt zu erleichtern.``

Esnera dachte kurz nach. ,,Vielleicht erreichst du dein Ziel viel eher, wenn du dein Anliegen der Göttin selbst vortragen kannst.`` Auf dem Gesicht der anderen machte sich gequälte Zuversicht breit. ,,Danke, Priesterin. Nun kann ich frohen Herzens das unvermeidliche erwarten.`` ,,So soll es sein. Nun geh.``

Die Erwählte machte sich auf, in Richtung des mit Ornamenten des Todes geschmückten Altares. Währenddessen schritt Esnera zurück zur Statue um die vorbereitenden Gebete zur Göttin zu schicken. Um um Kraft zu bitten, dieses Opfer durchzuführen. Das höchste Gut auf Erden, ein menschliches Leben, das es unter allen anderen Bedingungen unbedingt zu schützen galt, zu nehmen. Es überzuführen, in einen neuen Kreislauf aus Geburt und Tod. Die Gebete halfen ihr, alle Gedanken aus ihrem Kopf zu verdrängen. Sich volständig auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren. Ein weiteres Mal stieg sie in das Becken mit heiligem Wasser. Einmal tauchte sie unter und stieg wieder heraus. Ihr Kleid gewann dadurch die optischen Eigenschaften von Glas, wie es am Rand des dunklen Waldes hergestellt wurde. Es würde ihren Körper erst dann wieder verhüllen, wenn es sich vollsog mit dem Rot des Opferblutes.

Esnera durchquerte die Halle von der Seite der Geburt zu jener des Todes. In den Boden waren verschiedene Stadien im Leben der Menschen gelegt. Jeder Schritt durch die vom Wheirauch fast greifbar gewordene Luft entsprach mehreren Jahren. Mit jedem Schritt wurde der Choral der Priesterschaft düsterer. Jeder ihrer Schritte brachte die andere dem Tod, ihrem Platz vor der Göttin näher. Wie mußte sie sich fühlen, auf dem Opferaltar einer Gottheit liegend, die nach heimischer Auslegung die Göttin des Lebens war? Nie zuvor war Esnera der Gedanke gekommen, eine Tempeljungfrau könnte sich etwas anderes wünschen, als die höchste Ehre zu erfahren.

Ihr Opfer war bereits auf den Altar gebunden. Bei der Umrundung des Altars fiel ihr Blick auf die versammelten Priester. Einige von ihnen schienen mehr Freude am Betrachten von Esneras deutlich sichtbarem Körper zu haben, als an der Verehrung ihrer Göttin. Das hatte sie jetzt nicht zu kümmern. Esnera zog den Dolch. Ihre Erwählte schloß die Augen. Da war keine Spur der zu erwartenden Vorfreude in ihrem Gesicht. Diese Frau war nicht vorbereitet. Hatte Esnera das Recht, sie zu Opfern? Mußte sie nicht viel mehr zugeben, sich geirrt zu haben? Bei der letzten Prüfung zu versagen?

Natürlich würde das für die Erwählte nichts ändern. Sie war erwählt und würde es bleiben. Aber nicht Esnera würde dieses Opfer durchführen. Sie würde betend abwarten, bis die Opferpriesterin dieses Tempels die Zeremonie durchführte, danach selbst auf den Altar steigen. Bascheba würde an diesem Tag zwei Leben erhalten.

Nein. Sie war zur Opferpriesterin ausgebildet worden. Sie hatte ihr Opfer ausgewählt. Sie mußte das Opfer durchführen. Sie konnte nicht vor ihre Göttin treten und sagen: ,,Ich habe mich geirrt. Ich konnte nicht Priesterin werden, weil ich in Eurer Anbetung versagt habe.``

Langsam schritt sie über das kalte Steinmosaik zum Altar. Mit dem Dolch schnitt sie die leichte Kutte der Erwählten auf. Diese schien zwar ruhig zu bleiben, doch sah Esnera, wie ihr der Schweiß aus allen Poren rann. Sie fühlte sie unter ihren Händen zittern, spürte, wie sich jeder Muskel bei der geringsten Berührung verkrampfte. In den Reihen einiger Brüder in ihrem Alter kam es zu Unruhen. Der Anblick zweier Frauen ohne sichtbare Kleidung war wohl zuviel für die pubertierenden Knaben. Esnera ertappte sich dabei, wie sie froh war, über jede Ablenkung. Sie mußte sich zwingen, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Mit zitternden Händen griff sie nach der Schale mit der Salbe, die die Auserwählte gefühllos machen sollte, damit sie nicht vorzeitig durch ihre Schreie die Gesänge der Priesterschaft störe. Erst, wenn der letzte Dolchstoß die Wirkung der Droge in ihr Gegenteil kehrte, würde sie in einer Agonie aus Schmerz mit dem Todesschrei vor die Göttin treten. Langsam griff sie in die Schale und rieb den weißen Körper mit der Salbe ein. Die Augen der Auserwählten waren immer noch geschlossen, doch rannen Tränenbäche auf das schwarze Holz des Altares. Esnera griff wieder zum Dolch. Ihr Verstand, ihre Sinne hatten sich irgendwann abgeschaltet. Sie tat nur noch, was man ihr gesagt hatte. Wozu sie ausgebildet worden war. Irgend etwas in ihr hatte sich zurückgezogen. Sie war sich nicht sicher, ob es je zurückkehrte. Ohne die geringste Gefühlsregung schnitt sie die ersten Runen in die makellose Haut. Blut quoll hervor und verdeckte die mythischen Zeichen. Die nächsten schnitte gingen tiefer, ließen das Blut spritzen. Bald war Esnera über und über voll Blut. Der letzte Dolchstoß. Bereits der erste Stich traf das Herz. Die auserwählte schrie auf. Voller Schmerzen bäumte sie sich auf, wurde von Krämpfen geschüttelt, versuchte sich aus ihren Fesseln zu Reißen in einem letzten vergeblichen Versuch alle Kräfte und Energien aufzubringen, sich ans Leben zu klammern. Dann war alles vorbei.

Voller Entsetzen betrachtete Esnera ihr Werk. Man hatte ihr Beigebracht, jedes Leben zu schützen. Dennoch hatte sie mit Billigung, ja auf Forderung derselben Lehrmeister einen Menschen hingeschlachtet. Sie spürte, wie ihre Knie weich wurden. Sie versuchte noch, sich gegen die heranschleichende Ohnmacht zu wehren, doch es gelang ihr nicht.

In ihrer Bewußtlosigkeit hatte sie eine Vision. Dort saß die Auserwählte an einem See in einer Waldlichtung. Die Wunden, die Esnera ihr zugefügt hatte, waren verheilt, allenfalls einige Narben waren geblieben. Es roch nach Herbst. Nach Moos, Pilzen und Laub. Die Luft war kühl und frisch. Die Geräusche des Waldes wirkten beruhigend auf Esneras überspannte Nerven. Die Auserwählte drehte sich um. Sie lächelte. Als sie Esnera erblickte begann sie zu sprechen: ,,Schönen Tag, Priesterin. Ich habe es Euch nicht leicht gemacht, nicht wahr. Ihr hattet recht. Ich habe der Göttin mein Anliegen vortragen können. Sie will mich in eine neue Inkarnation schicken, in der ich mehr tun kann, als ich es als Ordensschwester je vermocht hätte. Sie sagte auch, eine so gute Opferpriesterin, wie Ihr eine werdet, hatte sie schon lange nicht mehr.``

Das Bild verschwamm. Im Aufwachen verstand Esnera. Der ursprüngliche Sinn des Opfers. Einen Menschen in Notzeiten zur Göttin schicken zu können, dem sie nach ihren eigenen Regeln zuhören mußte. Der sie auf die Lage der Menschen aufmerksam machen konnte. Als Opferpriesterin war es ihre Aufgabe, über den Zeitpunkt für das Opfer zu entscheiden. Sie hatte heute beweisen müssen, daß sie das konnte. Aber auch, daß sie davon nicht zu einer blutrünstigen Metzgerin werden würde.

Als sie erwacht war, lag sie vor der Statue der Göttin. Die Hohepriesterin und der Hohepriester standen vor ihr. ,,Beide Augen der Bascheba haben geleuchtet. Wann das zuletzt vorgekommen ist können sich selbst unsere Ältesten nicht mehr errinnern. Die Göttin hat wohl großes mit dir vor. Gehe nun, auch ihren Segen zu empfangen.``

Mit diesen einfachen Worten war die Zeremonie beendet. Jetzt erst bemerkte Esnera, daß man sie entkleidet und gewaschen hatte. Sie mußte länger bewußtlos gewesen sein, als sie es gedacht hatte. Daß der Hohepriester darüber kein Wort verloren hatte, zeigte wie tief ihn das Aufleuchten beider Augenkristalle der Statue beeindruckte. Esnera stand auf, schritt, nackt wie sie war durch die große Halle und den Tempelgarten zur Hütte am Brunnen der Freude, wo bereits ein junger Priester auf sie wartete, um sie endgültig aus dem Kreis der Jungfrauen zu lösen.


Johannes Bretscher

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